Die Passion Christi

Jesus ist auf dem Weg nach Jerusalem. Wie jedes Jahr und wie alle Juden in Israel zieht auch Er hin, das Passahfest zu feiern. Doch etwas ist anders als in den vergangenen Jahren. Die Apostel, die mit Ihm wandern, merken, etwas Bedrohendes liegt in der Luft. Wieder macht Jesus diese merkwürdige Aussage, Er werde von den Juden den Heiden überliefert und sogar zum Tod verurteilt werden. Doch diesmal hat die Vorhersage etwas ganz Konkretes. Der Tod Jesu scheint unmittelbar bevorzustehen – direkt am Ende dieser Reise: “Seht, wir ziehen hinauf nach Jerusalem”, sagt Er, “Da wird der Menschensohn den Hohenpriestern und Schriftgelehrten übergeben werden. Die werden Ihn zum Tod verurteilen und Ihn den Heiden ausliefern, auf dass Er verspottet, gegeißelt und gekreuzigt werde” (Mt. 20,18). So geht Jesus Seinem Tod entgegen. Es ist ein besonderer Tod. Der Höhepunkt einer Mission. War Jesu ganzes Leben schon ein Leben der Hingabe, Hingabe an den Vater, so steht Er jetzt kurz davor, Sein Leben aus freien Stücken niederzulegen als Sühne für die Sünde der Menschheit und als Lösepreis zur Befreiung aus der Macht Satans.
“Ich bin der gute Hirt. (...) Ich gebe Mein Leben für die Schafe. (...) Deshalb liebt Mich der Vater, weil Ich mein Leben hingebe, um es wieder zu nehmen. Niemand vermag es Mir zu nehmen, Ich gebe es freiwillig hin. Ich habe Macht, es hinzugeben, und habe Macht, es wieder zu nehmen. Das ist der Auftrag, den Ich von Meinem Vater erhalten habe” (Jo 10,14ff).
● Sünde ist Unrecht, weil schicksalhafte Übertretung des heiligen Gebotes Gottes und folgenschwere Verletzung Seiner Liebe. Was einmal getan ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden. Daher muss es gesühnt werden. Das ist Jesu Mission: Das Unrecht zu sühnen! Was heißt „sühnen“? Sühnen heißt, einen Nachteil oder ein Leid annehmen oder freiwillig auf sich nehmen, um durch dieses ungeschuldete gute Werk das entstandene Böse wieder auszugleichen und den Mangel der Liebe eines anderen durch das Übermaß der eigenen für den Sünder freiwillig übernommenen Liebesleistung auszugleichen, zu ersetzen und wiedergutzumachen.
Der Mensch ist ein Geschöpf Gottes. Von Gott erschaffen, weil Gott vernünftige Kreaturen an der Herrlichkeit Seines göttlichen Lebens teilnehmen lassen wollte. Allerdings hat sich der Mensch gegen Gott aufgelehnt. „Ihr werdet sein wie Gott“, hat der Versucher gesagt. Und so nahm der Mensch in seinem Stolz von der Frucht des verbotenen Baumes.
Da mussten die Menschen spüren, in welche Dunkelheit sie geraten, wenn sie sich von Gott als dem Quell des Lebens lossagen. Aber wie konnten sie wieder zurückkehren? Sie hatten kein Anrecht mehr auf Freundschaft mit Gott. Nur Gott konnte von Seiner Seite her diese Freundschaft wieder anbieten. In dem Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen durfte aber kein Unrecht unbeglichen, ungesühnt stehen bleiben. Die erste freiwillige Abwendung des Menschen und das ganze Unrecht der Menschen danach musste beglichen – gesühnt werden.
Die Größe der Schuld des Menschen richtet sich aber nach der Größe dessen, gegen den die betreffende Sünde begangen wurde. Gott ist unendlich gut, daher ist die Sünde des Menschen unendlich groß. Da der Mensch auch in Bezug auf seine sittliche Leistungsfähigkeit ein begrenztes Wesen ist, ist er grundsätzlich nicht in der Lage, Sühne für seine Sünde vor Gott zu leisten! Deshalb ist Gott in Seiner Güte und in Seinem Erbarmen in Jesus Christus Mensch geworden, um als Gottmensch stellvertretend für den Menschen Sühne zu leisten. “Alle sind der Sünde verfallen und entbehren der Herrlichkeit Gottes. Durch Seine Gnade werden sie aber ohne Verdienst dank der Erlösung in Christus Jesus gerechtfertigt. Ihn hat Gott in Seinem Blute als Sühnopfer durch den Glauben hingestellt, um Seine Gerechtigkeit zu erweisen“ (Röm. 3,23ff.).
Wir sind dank der Erlösung in Jesus gerechtfertigt! Gerechtfertigt heißt nicht, dass uns unsere Sünden bloß zugedeckt werden. Gerechtfertigt heißt, dass wir gerecht gemacht, innerlich geheilt und in Gott zum gerechten Menschen umgewandelt werden. “So wollte Er selbst gerecht sein und den gerecht machen, der an Jesus glaubt” (Röm. 3,26). An anderen Stellen heißt es, wir sind “abgewaschen, geheiligt” (1. Kor. 6,11), erneuert im Heiligen Geist (Tit. 3,5) oder teilhaftig der göttlichen Natur (2. Petr. 1,4). Die Rechtfertigung ist also mehr noch als Vergeben Gottes – sie beinhaltet auch die Mitteilung, das Erfüllt-Werden des Menschen mit der heilenden Gnade Gottes! Gott vergibt uns unsere Sünden, aber darüber hinaus ist die Rechtfertigung eine wirkliche Umwandlung in der Gnade! Diese ist nur möglich, weil Gott Mensch geworden ist und als Mensch (und Gott) ein Werk vollbracht hat, zu dem Er in keinster Weise verpflichtet gewesen wäre und das daher sozusagen die gute Seite der Waage wieder schwerer werden lässt als die böse.
● Und dann ist da noch der Bund mit Gott. Wie wir wissen, hat Gott schon zu Noe gesprochen: “Ich schließe jetzt einen Bund mit euch und euren Nachkommen, die nach euch sein werden, und mit allen Lebewesen, die bei euch sind (...). Und zwar schließe ich Meinen Bund mit euch dahin, dass kein Geschöpf mehr durch das Wasser der Flut vertilgt werden soll und fürder keine Flut mehr komme, um die Erde zu verheeren” (Gen. 9,9ff.). Und zu Abraham sagte Er: “Ich schließe einen ewigen Bund zwischen Mir und dir und deiner Nachkommenschaft, Geschlecht auf Geschlecht (...)” (Gen. 17,7). Diese Bündnisse sollten in den neuen und ewigen Bund, den Gott dann im Blute Seines Sohnes geschlossen hat, übergehen und dort ihre letzte und eigentliche Erfüllung finden. Daher sprach Jesus über den Kelch, der das Blut enthielt, das Er im Begriff war zu vergießen: „Dies ist der Kelch Meines Blutes, des neuen und ewigen Bundes...”. Wenn Jesus also jetzt Seine Passion antritt, dann tut Er das auch im Bewusstsein, dass Gott in dem Blut, das Er jetzt vergießen wird, mit den Menschen einen Bund schließen will. Von unserer Annahme hängt es dann ab, ob dieser Bund mit uns konkret zustande kommt oder nicht.
Die Vereinigung mit Gott in Seinem göttlichen Leben ist eine Sache der freien Entscheidung des Menschen. Sie basiert auf gegenseitiger Liebe. Liebe kann man aber nicht erzwingen. Daher hat ja Gott den Menschen frei erschaffen, dass er sich in Freiheit für Gott entscheide. Mit dieser Freiheit des Menschen ist aber auch immer die Möglichkeit gegeben, dass er sich gegen seinen Schöpfer stellt – und auch nach dem Erlösungsangebot Gottes auf seiner Haltung gegen Gott bestehen bleibt. Das muss wohl auch den Schmerz von Gethsemane ausgemacht haben, der Jesus das Blut aus den Poren presste. Er wusste, dass ein Teil der Menschheit Sein Erlösungswerk nicht annehmen würde, den Bund, den Gott in Seiner Größe und Güte anbietet, ausschlagen wird – zum eigenen Verderben.
Wie glücklich dürfen wir uns wähnen, dass wir in diesem Bund Gottes leben dürfen. Wie viel Zuversicht und Vertrauen sollte uns der Gedanke auch einflößen, wenn wir sehen, wieweit Er uns entgegengekommen ist, wie viel Er getan hat, um uns wieder heimzuholen.
● Der hl. Paulus sagt in seinem Brief an die Kolosser einmal: “Jetzt freue ich mich in den Leiden, (die ich) für euch (erdulde), und ich ersetze, was an den Drangsalen Christi noch fehlt, in meinem Fleisch zugunsten Seines Leibes, das heißt der Kirche”(Kol.1,24). Seltsame Worte! Reichen die Drangsale Christi nicht aus, um alle Welt zu erlösen? Das kann Paulus nicht gemeint haben, sagt er doch an oben zitierter Stelle in seinem Brief an die römische Gemeinde, dass alle der Sünde verfallen sind und ohne eigenen Verdienst dank der Erlösung Christi gerechtfertigt werden. Von Christus sagt er, dass Er das Sühnopfer sei – die Menschen sind nicht Mitwirkende, sondern zu Erlösende.
Dazu in “Die Heilige Schrift des Neuen Testaments”1: “Die paulinische Leidensmystik offenbart sich in diesem Verse in ihrer ganzen Tiefe und hochsinnigen Ausdehnung. Die Worte: 'ich ersetze, was an den Drangsalen Christi noch fehlt, an meinem Fleische' haben eine sehr verschiedene Auslegung erfahren. Ausgeschlossen ist vor allem die Auffassung, dass das Leiden Christi, wie es auf Golgotha seinen Höhepunkt erreichte, eine Ergänzung irgend welcher Art in seinem objektiven Werte nötig habe. Überhaupt denkt Paulus nicht an das irdische Leben Jesu mit seinen Mühen und Drangsalen, sondern die Worte sind im Zusammenhang mit seiner gesamten Christusmystik zu betrachten. Der Grundgedanke ist die mystische Einheit zwischen gläubigem Christ und Christus, wie sie das Bild vom Leib und seinen Gliedern veranschaulicht (Herv. d. Verf.) (V. 18). Auf Grund dieser Einheit nennt der Apostel 'seine Leiden Drangsale Christi, weil sie, obwohl Leiden des Apostels, eine Verkörperung dessen sind, was Christus gelitten hat' (Arn. Steubing, Der paulinische Begriff “Christusleiden” [Heidelberger Dissertation], Darmstadt 1905, 12). Die mystische Einheit veranlasst ihn auch dazu, von seinem täglichen Sterben zu sprechen (...), von seinem Gekreuzigtsein mit Christus (...). Indem diese Leidensmystik noch mit dem Hinblick auf die Mitmenschen sowie auf den übernatürlichen Lohn als ein Mitverherrlichtwerden mit Christus (...) verbunden wird, erweist sie jene siegreiche Kraft, die das Leiden freudig erträgt und vorbildlich wirkt, die schließlich dahin führte, dass z.B. eine Felicitas in den Geburtswehen den Gedanken aussprechen konnte: 'Jetzt leide ich, was ich leide; dort aber [nämlich beim Martyrium] wird ein anderer in mir sein, der für mich leidet, weil ich für ihn leide'”.
Paulus entwickelt des öfteren in seinen Briefen den Gedanken vom mystischen Leib Christi. “Denn wie wir an dem einen Leibe viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder den gleichen Dienst verrichten, so bilden wir viele zusammen einen Leib in Christus, einzeln aber sind wir Glieder untereinander” (Röm. 12,4f.). “Der Leib ist zwar eins, hat aber viele Glieder. All die vielen Glieder des Leibes bilden jedoch zusammen einen Leib. So ist es auch bei Christus. Wir alle sind durch die Taufe in einem Geist zu einem Leib geworden...” (1. Kor. 12,12f).
Dieser Gedanke, dass wir alle Glieder an dem einen Leib sind, der Christus ist, führt uns in bildlicher Sprache die Einheit vor Augen, die wir mit Christus eingehen. In dieser Einheit mit Christus leiden wir auch, wie der hl. Paulus in dem Zitat oben von sich selber sagt. Das lässt das menschliche Leiden natürlich in einem ganz anderen Licht erscheinen. Es lässt uns erkennen, dass wir mit Christus an Seinem Sühne- und Opferwerk mitwirken dürfen. Es lässt uns sehen, dass wir in unserem Leiden nicht alleine sind, sondern dass wir im Gegenteil, wenn wir Leid, das wir nicht abwenden können, annehmen, Christus in Seinem Leid beistehen. Und nicht zuletzt gibt es unserem Leid Sinn.
Der erste Gedanke, der der Sühne und des Opfers, mag vielleicht gering erscheinen. Unterschätzen wir aber den Wert angenommenen Leidens nicht! Es gibt Orden, die sich gerade dieses stellvertretende Sühnen zur Aufgabe gemacht haben. Im Bewusstsein der Realität und der Kraft desselben ziehen sie sich ganz hinter Klostermauern zurück und verzichten auf jeden direkten Einfluss auf ihre Umwelt. Und dennoch wirken sie dadurch höchst segensreich für die Welt! Wieviel können auch wir durch geduldiges Ertragen von Widerwärtigkeiten und stellvertretendes Gebet und Opfern für die Welt erreichen!
Auch der zweite Gedanke, dass wir im Leiden nicht alleine sind, ist wichtig. Wie trostreich ist im Schmerz der Gedanke, dass unser Gott ein Gott ist, der nicht von außen zuschaut, wenn wir leiden, sondern selber gelitten hat! Wie trostreich ist auch der Gedanke, dass wir durch unser williges Kreuztragen Jesus im Garten Gethsemane Trost spenden können. In dem Moment, wo Er von der Last der Sünde zusammengebrochen ist, können wir Ihm zeigen, dass es auch Menschen gibt, die mit Ihm wachen, Seine Erlösung annehmen und als Glieder an Seinem mystischen Leib mit Seinem Werk mitwirken wollen.
Wenn wir so als Glieder am mystischen Leib Christi leiden, dann wird uns auch Christus im Gegenzug Kraft verleihen, da wir ja Seine Glieder sind. So sind auch die oben zitierten Worte der hl. Felicitas zu verstehen: “dort aber [nämlich beim Martyrium] wird ein anderer in mir sein, der für mich leidet, weil ich für ihn leide”.
● Werfen wir abschließend noch einen Blick nach vorne. Als Glieder am mystischen Leib Christi sind wir auch Miterben mit Christus, wie Paulus sich ausdrückt. “Nur müssen wir mit Ihm leiden, um mit Ihm auch verherrlicht zu werden” (Röm. 8,17). Das heißt wenn wir mit Christus gelitten haben, dann dürfen wir auch hoffen, an Seinem göttlichen Leben, an Seiner Herrlichkeit teilzunehmen. Das darf nicht dazu führen, eigennützig zu kalkulieren. Es soll einfach die Erkenntnis sein, dass Gott mich an Seiner Liebe und Herrlichkeit teilhaben lassen will, dass ich aber auch diese Liebe mit aller Kraft erwidern soll. Je mehr ich mir selber absterbe – und das lerne ich gerade im Leiden – desto mehr kann Gott mich mit Seinem Leben erfüllen. So wollen wir also von der Passion Christi lernen. Wollen wir Ihn auf Seinem Leidensweg begleiten, um Seinem Beispiel zu folgen. Wenn wir dann bereit sind, mit Christus im Leiden auszuharren, dann dürfen wir auch die wahre Osterfreude erleben, die Freude, die darin besteht, dass der Tod keine Macht über uns hat, sondern dass wir mit Christus ewig leben.

P. Johannes Heyne

1 Dr. Max Meinertz, Dr. Fritz Tillmann, Die Gefangenschaftsbriefe des Heiligen Paulus, Bonn 1923, in: Die Heilige Schrift des Neuen Testaments, VI. Band, S. 24

 

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